Thomas Meyer, Tages-Anzeiger (13.12.2005)
Musiktheater über einen Aussenseiter: Benjamin Brittens «Peter Grimes» hatte am Sonntag im Zürcher Opernhaus Premiere. Ein Besuch lohnt sich.
Raue, ja auch rohe Gesellen, die da an der Küste Englands leben und mit der See kämpfen, ihr Fische abtrotzen und ihre Wucht fürchten. Das Leben treibt sie zusammen in der Bedrängnis, in der Lust, im Tanz, auch in der Hetze und im Hass, denn es gibt einen Aussenseiter, den Sonderling Peter Grimes, der verzweifelt ob seiner Rolle ist, der halt auch ungehalten und jähzornig sein kann, der seinen Lehrjungen nicht besonders gut behandelt, der seine mögliche Zukünftige schlägt. Weil ihm schon einmal ein Gehilfe beim Fischzug starb - ein Unglücksfall -, ist er geächtet. Das Drama kennt keinen Ausweg. Er wird mit dem neuen Lehrjungen die Vorurteile der Gesellschaft bestätigen.
Benjamin Britten hat ihnen allen in seiner Oper von 1944/45 Leben eingehaucht: der Dorfgesellschaft, der er eine solche körperliche Präsenz gab, dass «Peter Grimes» zu Recht auch als Choroper gilt; dem Aussenseiter, dessen Schicksal er mit Empathie schildert, und dem Meer, dessen Pracht und Gewalt er in den Zwischenspielen, den Sea Interludes, verherrlichte. «Peter Grimes» ist eine gefühl- und effektvolle, eine musikalisch abwechslungsreiche und farbige, eine starke, leidenschaftliche Oper, und die Verantwortlichen der neuen Zürcher Inszenierung lassen ihr zum Glück erst einmal ihre Kraft. Ein Besuch lohnt sich auf jeden Fall, wenn das Stück nun nach 15 Jahren wieder im Opernhaus auftaucht.
Geschönt wird nicht
Musikalisch gerade wird nichts zurückgenommen. Der von Ernst Raffelsberger einstudierte Chor steigert sich auf eindringliche Weise, und auch der Orchesterklang unter Franz Welser-Möst ist kernig direkt. Die rhythmische Exaktheit, etwa im Kanon am Ende des 1. Akts und in ähnlichen Massenszenen, mag sich später wohl noch einstellen - oder ist dieser «Mangel» Teil jener unbändigen Rohheit, die das Stück durchzieht? Tatsächlich scheint es paradox, von einem solchen Stück, auf welcher Ebene auch immer, Akkuratesse und Raffinement zu erwarten, wo es doch an der rauen See spielt. Das Ungeschliffene, Unverschliffene ist Teil des Stücks. Und hier wird es von einem Ensemble getragen, das lustvoll mitspielt, das nicht schönt.
Wir erleben eine Männergesellschaft. Die Frauen sind Projektionsflächen - für kurzen Lustgewinn oder künftiges Glück gedacht. Es gibt bezeichnenderweise in der Mitte der Oper einen einzigen ruhig-utopischen Moment: die vier so verschiedenen Frauen, die rechtschaffene Lehrerin Ellen Orford (Emily Magee, sehr diskret und mit warmer Stimme) sowie die in der Spelunke herrschende Aunti, und ihre beiden Nichten warten im Schatten, bis der Aufruhr um Peter Grimes vorbei ist: «Do we smile or do we weep / Or wait quietly till they sleep.» Es ist ein Moment, der Besinnung und Hoffnung vermitteln könnte (von der Stimmung her ist er leider noch nicht ganz bewältigt), der aber von tiefer Verzweiflung zeugt. Und es gibt jenen grossen letzten einsamen Gesang von Peter Grimes, der über dem Abgrund schwebt und schliesslich von einem, der es eigentlich gut mit ihm meint, von Captain Balstrode (väterlich: Alfred Muff), in den Selbstmord geschickt wird. Christopher Ventris in der Titelrolle stellt auf imponierende Weise die Zwiespältigkeit dieses Charakters dar: seinen Willen und seinen Unwillen, sein Eigenbrötlertum und seine Angst, und er vermag diese Interpretation bis zuletzt zu intensivieren.
Trotz lockerer Zügel alles im Griff
Sonst wirbelt diese Gesellschaft durcheinander: die kesse Auntie (Liliana Nikiteanu), der Eiferer Boles (Rudolf Schasching), die jedem Gerücht folgende Mrs Sedley (Cornelia Kallisch), der bigotte Anwalt Swallow (Richard Angas), der Apotheker Ned Keene (Cheyne Davidson) - Regisseur David Poutney lässt die Zügel recht los und hält doch das Ganze im Griff. Denn dieses Durcheinander findet in einem geometrisch abgezirkelten Raum statt. Die Bühne (Robert Israel) ist in die Höhe hinauf bevölkert: waagrecht agil und senkrecht stativ. Auf einer Brücke, die quer durch den Raum führt, ergibt sich einerseits eine zweite Bewegungsebene. Die Pfeiler andererseits, an denen weitere Menschen auf Stühlen kleben, wirken statisch, unausweichlich gleichsam. Dieses Einheitsbühnenbild durch alle drei Akte hindurch überzeugt schliesslich, gerade weil es so unbeweglich bleibt. Es engt ein, macht diese Gesellschaft allgegen- und ein bisschen widerwärtig. Geht das auf? Im Ganzen ja, wenn Pountney auch im Detail manches überdeutlich gestaltet.
Der beim Musikalischen erwähnte Zwiespalt zwischen roher Realität und Verfeinerung wird in der Inszenierung vergrössert, weil Pountney partout noch eine symbolische Deutung einbringen will. Reicht es nicht, dass diese rauen Gesellen in ihren härenen Gewändern (Marie-Jeanne Lecca) durchs Dämmerlicht (Jürgen Hoffmann) treiben, muss man noch mehr damit machen? Muss also Peter Grimes zu einer Christusfigur werden? Der Schiffsmast, den er zum Schluss auf seinen Schultern hereinträgt und an dem er seinen letzten Kampf austrägt, ist ein Kreuz, die toten Knaben werden als Pietà präsentiert. Ach ja, das Abendland muss wieder mal mit rein, auch wenn wir uns in einem kleinen Fischerdorf bewegen! In einem Programmtext arbeitet der Münchner Theater- und Musikwissenschaftler Jürgen Schläder zwar die Parallele von Grimes zu Jesus heraus. Dazu lassen sich wohl Gründe anführen. Für Peter Pears freilich, den Lebensgefährten des Komponisten und ersten Darsteller der Figur, war dieser Grimes «im Gegenteil ein ganz gewöhnlicher Mensch, ein Schwacher, der im Kriegszustand mit der Gesellschaft steht, in der er lebt». Diese Gewöhnlichkeit hätte genügt. In Zürich wird Grimes zum tragischen Helden verklärt.