In der Kanzlerbunkerklinik

Tobias Gerosa, Basler Zeitung (08.12.2015)

Il Viaggio a Reims, 06.12.2015, Zürich

Christoph Marthaler inszeniert Gioachino Rossinis «Il viaggio a Reims». Die beiden passen gut zusammen

Zuerst ist da nur die zuckende Achsel der Haushälterin. Dann klopfen Dutzende Löffel auf weiche Eier. Erst dann kommt die Musik. Kommt sie dazu oder ergänzt sie? «Il viaggo a Reims» ist kein typischer Marthaler-Abend, dafür bietet die Vorlage wohl zu viel eigene Kraft als Widerstand. Und das bekommt beiden.

Gioachino Rossinis erste Oper für Paris nützt eine klare Regiehandschrift. Die «Handlung» ist hier nicht mehr als Anlass für die musikalischen Nummern. Eine illustre, offenbar gut betuchte Gesellschaft strandet bei der Anreise zur Krönung des französischen Königs, also auf der «Reise nach Reims». Wobei äusserlich eben nicht mehr passiert, als dass sich die Hoffnung auf eine Weiterreise zerschlägt und stattdessen vor Ort eine patriotische Party gefeiert wird.

Naturalistisch und surreal

Das dauert drei Stunden, da brauchen auch die Amouren etwas Unter­fütterung. Andersherum verhindert die Musik mit ihren Strukturen, dass Marthalers Ideen ausufern und die Ins­zenierung verflattern lassen, wie es bei «Sale», seiner ersten Arbeit am Opernhaus 2012, geschah.

Marthaler schickt die gemischte Gesellschaft mit seiner Ausstatterin Anna Viebrock in ein dem Bonner Kanzler­bungalow nachge­bildetes Sanatorium mit Anti-Fusspilzdusche. Naturalistisch und surreal zugleich – wie die grossen Arien und Ensembles, deren Inhalt eigentlich egal ist.

Die Inszenierung hält viele kleine Geschichten und Szenen bereit und lässt doch vieles offen. Sind wir in einer Klinik, wo die Patienten halt manchmal komisch tun? Oder schauen wir einem Europagipfel zu, wie es die ­Porträts, Fähnchen und Zeremonien andeuten? Und was sucht der goldene Pokal im Bunker?

Marthaler lässt die Oper manchmal aber schlicht Oper sein. Da singt eine der Figuren ihre Arie – und daneben läuft etwas ganz anderes: Eine umge­fallene Katze ist wichtiger als ein Notfallpatient, zur grossen Arie preist der omnipräsente Rafael Clamer als Günther-­Guillaume-Spion, Strippen­zieher und Dealer stumm, aber beredt Brustimplantate an. Und plötzlich hört man der Musik ganz anders zu, auch wenn sich insgesamt keine grosse Linie erschliesst. Auch der Chor wird szenisch praktisch nicht gefordert.

18 Rollen hat die Oper, nur vier davon sind Stichwortgeber. Es bleibt also ein gutes Dutzend auch gesanglich individueller Figuren, eine Heraus­forderung fürs Besetzungsbüro. Bei den Männern schlägt sich Zürich hier verlässlich, wobei Scott Connor mit der Arie des Don Profondo die eingängigste Einzelnummer bekommt. Am eindrücklichsten jedoch agiert Javier Camarena mit süssem Timbre. Bei den Frauen brillieren sowohl Julie Fuchs als auch Anna Goryachova. Und Rosa Feola nutzt die Chancen, die ihr die herausstechende Rolle der Sängerin Corinna bietet, mit grosser Farbpalette.

Der junge Daniele Rustioni am Pult der Philharmonia Zürich wurde am Schluss in den Jubel einbezogen. Er hält die Fäden sicher und mit Sinn für den spezifischen Stil dieser verrückten Oper beeinander. Am Anfang zuckt eine Schulter auf der Bühne, am Schluss ganz viele im Publikum – vor Lachen.