Oliver Schneider, DrehPunktKultur (15.11.2010)
In Rossinis Oper „Guillaume Tell“ zeigt Regisseur Adrian Marthaler in Zürich, wie Mythen entstehen und gepflegt werden: Toblerone, Uhren, das Militärmesser …
Wahrlich inszeniert ist bereits die Ouvertüre, wenn Frau und Herr Schweizer auf Bänken sitzend das Innerschweizer Panorama am Vierwaldstätter See auf sich wirken lassen. Auch der kürzlich zurückgetretene Verkehrsminister gesellt sich dazu. In welchem Land ist das schon möglich? Plötzlich wird das Bild der heilen Welt gestört, treten doch nur noch gebrechliche Menschen hinzu. Nicht nur Alte, sondern auch Junge: die viel gescholtenen Bänker mit eingegipsten Armen, Stöcken und Krücken. Als letzte kommen noch die Migranten, die heute das Bild der Schweiz mitprägen. Vorhang.
In der Vorgeschichte hat Filmregisseur Adrian Marthaler, der ältere der Marthaler-Brüder, den Rahmen für seine Tell-Neuinszenierung in der französischen Originalfassung am Opernhaus Zürich abgesteckt. Ihn interessiert, wie Mythen heute in der Schweiz gepflegt und gelebt werden. Damit hat er einen Ansatz gewählt, der an Tankred Dorsts heuer letztmalig gezeigten Ring in Bayreuth erinnert.
Toblerone, Uhren, das Militärmesser oder das Gewehr, das jeder Schweizer während seiner Militärdienstzeit im Kleiderschrank hat, stehen als Symbole für die eidgenössischen Werte auf der Bühne, und natürlich ein Goldbarren, den Rodolphe hätschelt wie ein Baby. Er ist zum bösen Steuerfahnder mutiert, die Habsburger Soldaten zu EU-Grenzbeamten. Doch ein Problem haben die Schweizer wie ihre europäischen Nachbarn auch, das Littering. Konventioneller wird es im zweiten Akt am Waldesrand, wenn sich Arnold Melcthal und die Habsburgerprinzessin Mathilde ihre Liebe gestehen. Marthaler hat den persönlichen Geschehnissen mit Recht weniger Aufmerksamkeit gewidmet, ist die 1829 in Paris uraufgeführte Komposition doch im Zusammenhang mit der ein Jahr später stattfindenden Juli-Revolution und dem Aufkommen der italienischen Einigungsbewegung zu sehen. Sehr gelungen ist der Moment, in dem die Vertreter der Urstände eingezwängt zwischen den Bäumen ihren Rütli-Schwur ablegen, während die modernen Berufstätigen im Morgengrauen schon wieder mit dem Aktenköfferchen brav zur Arbeit gehen.
Nachdem Tell die Schweizer schliesslich vom „EU-Vogt“ Gessler befreit hat, lässt Marthaler noch einmal kurz den Vorhang fallen: Während der Chor aus dem Zuschauerraum „Freiheit, steige wieder vom Himmel herab“ intoniert, schwimmt die Insel Schweiz auf der Bühne einsam am europäischen Nachthimmel. Eigentlich ein harter Brocken, der aber vom Publikum grösstenteils goutiert wird.
Um die musikalische Leitung hatte es im Vorfeld einige Querelen gegeben. Thomas Hengelbrock war nach der ersten Probenwoche ausgestiegen, weil Hausherr Pereira ihm keine Werkbesetzung garantieren konnte oder wollte. Eingesprungen ist der routinierte Gianluigi Gelmetti, ein profunder Kenner der facettenreichen Partitur, der bereits einmal 1999 eine ungestrichene Aufführung des Tells in Pesaro dirigiert hat. An Geschmeidigkeit und Brio lässt er es nicht fehlen, konzentrierte sich am Premierenabend aber zu Beginn zu wenig auf die Sänger. Im vierten Akt ging zuweilen auch das Temperament mit ihm durch, was sogar Antonino Siragusa als Arnold in die Enge trieb.
Ihm gebührt ohnehin musikalisch die Krone des Abends für sein Rollendebüt in der schwierigen Partie, mag man sich an seinen recht aggressiven Ton im ersten Akt auch erst gewöhnen müssen. Sein Arioso „Asile héréditaire“ und das anschliessende „Amis, amis, secondez ma vengeance“ bis zum zweigestrichenen cis im vierten Akt macht er zum späten Höhepunkt des Abends. Michele Pertusi ist ein souveräner, kerniger Tell mit grossem Stimmvolumen. Eva Mei als Mathilde überzeugt vor allem in ihrer koloraturreichen Arie zu Beginn des dritten Akts, aber auch mit einem vorbildlichen Legato in ihrer ersten Romance. Insgesamt aber liegt die Tessitura für ihre Stärken wohl zu tief. Aus dem bewährten Zürcher Ensemble ragen namentlich noch Wiebke Lehmkuhl als sonore Hedwige und Martina Janková als Jemmy hervor. Neben dem versierten Opernhaus-Orchester sei schließlich noch der von Ernst Raffelsberger gut einstudierte Chor erwähnt.