Reinmar Wagner, Die Südostschweiz (25.10.2010)
Im Theater St. Gallen hat Bellinis Oper «La Sonnambula» am Samstag eine imposante Aufführung erlebt, vor allem dank Hauptdarstellerin Jane Archibald. Speziell war das Bühnenbild: gigantische Biedermeier-Möbel statt Schweizer Berge.
Es gibt nicht viele Opern, die in der Schweiz spielen. Eine der Ausnahmen ist Vincenzo Bellinis «La Sonnambula», 1831 für Mailand komponiert. Ein Dorf in den Bergen ist Schauplatz für die romantische Geschichte um eine schlafwandelnde Dorfschönheit, die in der Nacht vor ihrer Traumhochzeit mit dem reichen Nachbarsbauern im Bett eines anderen erwischt wird. Zwar hat sie schlafwandelnd dahin gefunden, aber das will natürlich lange niemand glauben im bodenständigen Bauerndorf.
Riesenmöbel originell genutzt
Aber von romantischer Alpenatmosphäre will die Inszenierung am Theater St. Gallen nichts wissen. Bühnenbildner Cristian Taraborrelli baute statt Felsen und Gletschern Biedermeier-Möbel von überwältigenden Dimensionen, die für Bergwanderungen und schwindelerregende Schlafwandel-Szenen herhalten müssen. Für Heiterkeit sorgen originelle Auftritte, etwa aus den Schubladen der Riesenkommode heraus.
Auf diese Weise versucht Regisseur Giorgio Barberio Corsetti wettzumachen, was er an Personenführung verpasst - unsäglich zum Beispiel, wie der Chor eine Stehparty nach der anderen feierte. Dazu wurden gut gemachte Video-Clips auf die ganze Rückwand projiziert und die Verdoppelung der amourösen Verwicklungen in einem Puppenspiel, das in dieser Vergrösserung fast lebensechte Dimensionen gewann. Zwergenhafte Ausmasse hatten dagegen im dritten Akt die Häuser.
Was diese Verschiebungen der Grössenverhältnisse zum Verständnis von «La Sonnambula» beitragen sollten, blieb allerdings weitgehend schleierhaft. Die Welt gerät ja nicht wirklich aus den Fugen, sogar schlafwandelnd ist Amina ganz bei sich und ihrer Liebe zu Elvino. Aufzuklären bleiben nur die Missverständnisse zwischen dem zentralen Liebespaar, das sich am Ende auch auf dem XXL-Bett in die Arme schliessen darf.
Eine meisterliche Amina
Trotz der nicht allzu komplexen Handlung erhalten die Figuren nur selten szenisch griffige Konturen. Die Protagonisten dürfen sich dafür auf das Singen konzentrieren, was sie am Premierenabend am Samstag dankbar ausnutzten. Vor allem Jane Archibald als Amina erwies sich als berauschend sicher sowohl in den gesangstechnischen Anforderungen wie in der feinen, differenzierten Ausgestaltung von Bellinis Melodielinien.
Lawrence Brownlee sang den Elvino im Timbre etwas eindimensionaler, aber auch er überzeugte durch seinen sicheren Umgang mit Linie und Koloraturen. Noch etwas blasser, mit wenig charmanten Farben in der Höhe, sang Alison Trainer die Wirtin Lisa, während Roberto Tagliavini den Bariton Rodolfo mit einer einnehmenden stimmlichen Noblesse gestaltete, die seiner Figur, einem Grafen, gut stand.
Am Pult des St. Galler Sinfonieorchesters stand der Wiener Thomas Rösner, der als Chefdirigent des Bieler Sinfonieorchesters in der Schweiz zu einer festen Grösse geworden ist. Sein Bellini blieb stets schlank und durchsichtig. Vorbildlich, wie er den Gesang im Zentrum stehen liess und die dynamischen Abläufe im Zaum hielt. Jedoch standen auf der Soll- seite auch ein etwas unschlüssiger Umgang mit den Pausen und für eine Bellini-Partitur etwas gar weiche Konturen, was nicht allein seine Verantwortung war: Fast immer, wenn er das Tempo anziehen wollte, um Dramatik zu erzeugen, folgte ihm ein Teil des Orchesters und vor allem der ansonsten klangschön und homogen singende Chor nicht sogleich.
Im Orchester waren einige schöne Bläsersoli zu bewundern, und auch geschärfte Tempi stellten das Streichertutti vor keine nennenswerten Probleme. Eine musikalisch also stimmige Produktion, mit einigen szenisch originellen Ideen: einen Besuch wert!