Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (22.02.2010)
Mozarts «Idomeneo» mit Nikolaus Harnoncourt im Opernhaus Zürich
Damals, an der Premiere vom 1. März 1980, bildete ein mächtiges Haupt Neptuns den Hintergrund der Bühne: Das Schicksal, das Idomeneo, den König der Kreter, dazu zwingt, seinen Sohn Idamante dem zürnenden Meeresgott zu opfern, war den ganzen Abend über allgegenwärtig. Jetzt ist «Idomeneo» von Wolfgang Amadeus Mozart, nach einer Zwischeninszenierung 2003, erneut ans Opernhaus Zürich zurückgekehrt – und mit dabei ist, als kleine Verbeugung, das Haupt Neptuns. Nur steht es nun auf der Seite und hat es seine bedrohliche Omnipräsenz verloren.
Nochmals ganz neu
Fast auf den Tag genau dreissig Jahre sind vergangen, seit der Dirigent Nikolaus Harnoncourt mit «Idomeneo» den von ihm betreuten Mozart-Zyklus am Opernhaus Zürich eröffnet hat. Vorangegangen war, eine Initiative des damaligen Intendanten Claus-Helmut Drese, die Wiederentdeckung Claudio Monteverdis, die als künstlerisch weitsichtige Tat in die Geschichte eingegangen ist. Der «Idomeneo», den Harnoncourt damals wie die Opern Monteverdis mit dem Bühnenkünstler Jean-Pierre Ponnelle herausgebracht hat, erschien im Vergleich dazu weitaus weniger revolutionär; man hatte die Ohren noch kaum offen für das Neuartige, das Harnoncourt in der Musiksprache Mozarts entdeckt hatte.
Allein, was sich in Sachen Mozart damals an Perspektiven eröffnet hat, wie tiefgreifend sich unser Bild von dieser Musik seither verändert hat und wie selbstverständlich diese Veränderungen heute sind, das wird deutlich, wenn man die Aufnahme von «Idomeneo» anhört, die Karl Böhm 1977 dirigiert hat. Von heute aus erscheint, was seinerzeit angenehm leichtfüssig gemeint war, plötzlich schwer, flächig, ausdruckslos. Fehlt das musikalische Sprechen und mit ihm die bisweilen doch sehr dringliche Aussage, die uns vertraut geworden sind. Das ist nicht nur, aber doch wesentlich auf die Arbeit Harnoncourts zurückzuführen.
Jetzt also nochmals «Idomeneo»: in einer Produktion, die 2008 für die Styriarte Graz entstanden, dort auch auf DVD dokumentiert worden und nun vom Opernhaus Zürich übernommen worden ist. Harnoncourt wäre freilich nicht Harnoncourt, bliebe es bei der Reminiszenz oder dem Remake. Nein, auch mit achtzig Jahren steht er an der Spitze der Entwicklungen. Und dort haben sich die Prämissen gründlich gewandelt. Der Eiserne Vorhang ist gefallen, das nach Krakau verbrachte und heute dort betreute Autograf der «Idomeneo»-Partitur ist frei zugänglich und ermöglicht Einsichten, die weit über den Stand der in den siebziger Jahren erschienenen Partitur der neuen Mozart-Ausgabe hinausgehen. So kommt es – kein Wunder bei einem Musiker, für den das Interpretieren ausgeprägt mit der Formulierung einer eigenen Meinung zusammenfällt – nochmals zu einem ganz neuen Ansatz.
Konkret heisst das: «Idomeneo» wird in Zürich nicht als die Opera seria gezeigt, für die das Werk gern gehalten wird, sondern, mit guten Gründen, als Tragédie lyrique, und das konsequent nach der Massgabe der Münchner Uraufführung von 1781. Das ist schon bei der Ouvertüre zu erleben. Das Orchester La Scintilla sitzt nicht im Graben, sondern sozusagen ebenerdig, weshalb es ausnehmend präsent klingt. Doppelt punktiert à la française kommt das vierteilige Motto daher, das durch kleine Fermaten strukturiert wird. Und bald zeigt sich, welch erstaunliche, bisweilen magische Farbenpracht das mit Instrumenten der Zeit besetzte Ensemble entfalten kann, auch welchen Reichtum an Artikulation es zu pflegen vermag. Den ganzen Abend über, und vor allem bei den vielen begleiteten Rezitativen, bleibt das Orchester im Zentrum – so ist es bei der Tragédie lyrique.
Ebenfalls zur französischen Ausprägung des musikalischen Theaters gehört der hohe Anteil des Tänzerischen – da schlägt die Stunde von Heinz Spoerli und seiner Truppe. Nicht nur wird schon zur Ouvertüre die Lage auf Kreta tänzerisch angedeutet, nicht nur mischen sich die Tänzerinnen und Tänzer dort unter die Darsteller, wo sich die Bedrohung durch den zornigen Neptun manifestiert. Auch die im Stück vorgesehenen Ballette werden allesamt aufgeführt. Dramaturgisch mag das zur Last werden, doch formal, gerade im Hinblick auf die Symmetrie der Anlage, hat es seinen Sinn.
Ist die Ouvertüre verklungen, gehört das Wort der Sopranistin Julia Kleiter, die mit ihrem Auftritt in der Partie der gefangenen trojanischen Prinzessin Ilia für den sängerischen Glanzpunkt des Abends sorgt. Glockenrein ihr Timbre, ähnlich dem von Edith Mathis auf der Böhm-Aufnahme – nur stilistisch ganz anders verortet. Frei lässt sie die Phrasen ausschwingen, und das Orchester folgt ihr in fabelhafter Flexibilität der Tempi. Als Elettra steht ihr Eva Mei in nichts nach; mit ihrem verschmitzten Humor gelingt es der Sängerin, diese (wie die Elvira aus «Don Giovanni») schwierige Partie aus ihrer einseitigen Fokussierung auf den Zorn nach enttäuschter Liebe zu befreien. Berührend auch Marie-Claude Chappuis in der für einen Kastraten geschriebenen Rolle des Königssohnes Idamante – zumal auch darin, wie die Sängerin am Premierenabend nach einem schwierigen Start ihr Eigenes fand. Mehr Mühe bereiten die Männer, allerdings nicht Rudolf Schasching als unerbittlicher Oberpriester. Aber Saimir Pirgu (Idomeneo), der viel zu viel tenorales Schluchzen einsetzt und noch zu sehr in Glanz und Kraft verliebt ist. Und Christoph Strehl (Arbace), der in seiner grossen Arie den Stimmsitz nicht findet.
Dirigent als Regisseur
Dessen ungeachtet (und auch dank den langsamen Tempi, die dem musikalischen Geschehen den notwendigen Raum zur Entfaltung lassen) kommen die Schönheiten von Mozarts «Idomeneo» voll zur Geltung – etwa bei den drei Märschen mit ihren dynamischen Effekten, bei dem würdigen c-Moll-Chor im dritten Akt und daselbst bei dem wunderbaren Vokalquartett, zu dem Harnoncourt die vier konzertierenden Bläser auf die Bühne treten lässt. Ja, er selbst, denn der Dirigent führt hier auch Regie, zusammen mit seinem Sohn Philipp Harnoncourt und in der Dekoration von Rolf Glittenberg. Das hätte vielleicht nicht sein müssen, zu gebastelt, ja bieder wirkt die Produktion. Wenn man denkt, was Harnoncourt bei Webers «Freischütz» im Verein mit der grossen Ruth Berghaus gelungen ist. Immerhin wird, wenn zum lieto fine die Treppe vor dem nunmehr verschwundenen Neptunkopf eingezogen wird, der aufklärerische Duktus von «Idomeneo» auch szenisch deutlich. Dass es hier um die Befreiung des Individuums und die Wahrhaftigkeit der Gefühle geht, war an diesem Moment schon zu hören: einen ganzen Abend lang und aufs Intensivste.