Peter Hagmann, Neue Zürcher Zeitung (17.02.2009)
«Lulu» von Alban Berg im Theater Basel
Muss es sein? Bei Carlo Bieito, keine Frage, muss es sein. Muss Lulu im Theater Basel kurz vor Schluss ihren üppigen Pelzmantel von den Schultern gleiten und sehen lassen, was Gott geschaffen haben soll. Und muss die Hauptdarstellerin in der gleichnamigen Oper von Alban Berg, nachdem sie unter den Messerstichen von Jack the Ripper alias Doktor Schön schliesslich ihren Todesschrei ausgestossen hat, mit leicht geöffneten Beinen auf dem Abfallhaufen liegen und so noch ihr Verborgenstes preisgeben. Derweil sich im Vordergrund die Gräfin Geschwitz zermartern, ihre schon ziemlich geschlitzte Bluse vollends aufreissen und ihre Brüste herzeigen muss. Carlo Bieito ist eben ein Mann, und was für einer.
Enthüllungstheater
Ist vielleicht kein Mann, wer als Mann diese Art Enthüllungstheater von Herzen unnötig findet? Doch gemach, der Reihe nach. Lulu, das ist, bekanntlich, die Inkarnation des Weiblichen, des abgrundtief Gefährlichen, ja Todbringenden – so zeigt es Franz Wedekind, dessen Stücke «Erdgeist» und «Die Büchse der Pandora» Alban Berg für seine 1937 am Stadttheater Zürich uraufgeführte Oper verwendet hat. Der katalanische Regisseur Calixto Bieito nimmt das wörtlich, was nun einmal seine Art ist. Er stellt das Tier im Weibe aus, wie es der Dompteur im Vorspiel ankündigt, und in Marisol Montalvo steht ihm eine Darstellerin zu Diensten, die sich seinem Zugang mit Haut und Haar verschrieben hat.
Dass diese Lulu vorwiegend knapp bekleidet auftritt, ist kein Skandal; jeder Fernsehschirm zeigt zu später Stunde Gewagteres. Und dass Marisol Montalvo katzenhaft agil, jedenfalls ausgesprochen körperbetont spielt, verleiht der Aufführung einen fast revuehaften Schwung, wie er im Vorspiel mit seinen Anklängen an den Zirkus verankert ist. Geradezu grotesk wirken indessen die sängerischen Defizite. Die Stimme dieser Lulu ist dünn und über weite Strecken kaum hörbar, die Register sind sehr unterschiedlich gefärbt und durch keinerlei Übergang miteinander verbunden, die Diktion ist schlecht und, wo sie denn zum Tragen kommt, oftmals ungepflegt. So auf das optisch Reisserische reduziert, wird dem Musiktheater das Grab ausgehoben.
Dem Regisseur, der sich für die Bühne von Alfons Flores und die Kostüme von Ingo Krügler assistieren liess, ist zugutezuhalten, dass er seinen Ansatz mit eiserner Konsequenz durchführt. Nach Massen wird zugespitzt und ans Licht gezerrt. Der Maler (Rolf Romei), der hier ein Fotograf ist, verendet nicht hinter, sondern auf der Bühne, den Theaterskandal erlebt man nicht von der Garderobe Lulus aus, sondern live auf der weit geöffneten Bühne, der Athlet (Andrew Murphy) tritt nicht einfach ab, um die Polizei zu avisieren, sondern wird von Alwa (dem trotz Grippe respektabel singenden Erin Caves) im Lehnstuhl erdrosselt, der vor Lulus Reizen ins Stammeln geratende Kammerdiener (Karl-Heinz Brandt) erscheint als Kriegsversehrter. Geheimnis bleibt dabei keines übrig – wo doch die Mauerschau, die ein Geschehen nicht zeigt, sondern es schildert, schon von den alten Griechen als dramaturgisches Mittel der besonderen Art erkannt war. Und vollkommen zerstört wird jene besondere Aura des Erotischen, nämlich des aufreizend Angedeuteten, wie es die mit allem Raffinement gemachte Partitur von Alban Berg in so einzigartiger Weise verwirklicht.
Spuren einer Vervollständigung
Die Musik, sie hat es schwer an diesem Abend, nicht nur der mit wenig Sensibilität gesegneten Huster wegen. Oder anders gesagt: Der Dirigent Gabriel Feltz stemmt sich mit aller Kraft gegen das Unterliegen, und das Sinfonieorchester Basel leistet ihm dabei die Dienste, die es derzeit zu leisten vermag. Das luxuriös Schillernde, aus der Tiefe Schimmernde der Partitur bleibt dabei einigermassen auf der Strecke, und auch auf der Bühne wird eher handfest agiert – das Niveau der fünfzehn Jahre zurückliegenden Produktion mit Friedrich Cerha am Pult und Hans Hollmann als Regisseur wird hier in keinem Moment erreicht. Claudio Otelli freilich ist als Doktor Schön alias Jack the Ripper eine von Stimme und Statur her imposante Erscheinung, in der Partie der Gräfin Geschwitz spielt Tanja Ariane Baumgartner nicht nur eindringlich, sie lässt vielmehr auch mit Nachdruck hören, was Singen heissen kann. Und Allan Evans, Mitglied des Basler Ensembles von 1974 bis 1987, sorgt als der schlurfende Schigolch für ein bewegendes Wiedersehen.
Schwerer als alles wiegt freilich der Eingriff ins Werk, den sich das Theater Basel leisten zu können glaubt. Gezeigt wird «Lulu» in der dreiaktigen Fassung, also mit der von Friedrich Cerha erstellten Vervollständigung des dritten Akts, den Berg nur skizziert hinterlassen hat – fast auf den Tag genau dreissig Jahre ist es her, seit Pierre Boulez und Patrice Chéreau diesen neuen Blick aufs Werk an der von Rolf Liebermann geleiteten Pariser Oper aus der Taufe gehoben haben. In Basel freilich wird ein wichtiger Teil dieser Vervollständigung wieder rückgängig gemacht, denn das erste Bild des dritten Akts, die in einem Pariser Salon spielende Gesellschaftsszene, ist kurzerhand gestrichen. Gewiss bringt dieses Bild dem Drama wenig, es ist als ausladendes Tableau angelegt, welches das Ende hinauszögert, und als solches ein Problem – für die Spannung des Abends ohnehin, aber auch für seine zeitliche Ausdehnung. Nur: Wer das nicht mag, sollte vielleicht doch so ehrlich sein und das althergebrachte Fragment spielen, alles andere ist Etikettenschwindel. Es zeugt von jener Selbstherrlichkeit der Interpreten, die diesen hoch problematischen, wenn auch äusserst anregenden Abend insgesamt kennzeichnet.