Bettina Kugler, St. Galler Tagblatt (22.12.2008)
In Franz Lehárs «Lustiger Witwe» tanzt die Welt auf dem Vulkan – am Theater St. Gallen kein Grund zu aktuellen Bezügen. Am Samstag war Premiere.
Theater in Zeiten der Krise: Es könnte die Gelegenheit beim Schopfe packen und die Wirklichkeit links überholen. Das Schauspielhaus Hamburg macht das derzeit vor mit Volker Löschs Peter-Weiss-Adaptation «Marat, was ist aus unserer Revolution geworden?». Da stehen echte Arbeitslose auf der Bühne, verlesen Namen und Adressen der reichsten Bürger der Hansestadt, proben den Aufstand. Das Publikum geht mit auf die Barrikaden.
Seit Wochen wird dort hitzig diskutiert über die theatralische Anstiftung zur Umwälzung; neuerdings beginnt die Revolte schon an der Kasse: «Sie zahlen, so viel Sie können», heisst die Aktion, bei der die Zuschauerin, der Zuschauer selbst bestimmen darf, wie viel sie übrig hat für schöne Kunst, was ihm die moralische Anstalt wert ist.
Zwei bis fünf Euro sind der Durchschnittswert. Damit lässt sich natürlich kein anständiges Theater finanzieren, nicht einmal revolutionäres, und wären die Schauspieler dabei in Lumpen gehüllt.
Aus dem vollen schöpfen
Wovon in St. Gallen nicht die Rede sein kann, jedenfalls nicht im aktuellen Beitrag zum globalen Spekulationskrimi namens Finanzkrise, Wort des Jahres 2008 in Deutschland. Da zahlt man ohne Murren festgesetzte Preise, leistet sich ungetrübten Spass und macht sich noch premierenfein. Da darf denn auch Kostümbildnerin Marion Steiner aus dem vollen schöpfen, und sie tut es zur allgemeinen Freude mit Lust und Sachverstand: für den Chor traumhafte Ballkleider in Weiss, herrliche Fräcke, schmucke Balkanfolklore; den Staatsbankrott trägt man mit Stil und Fassung, und noch die schäbigste Grisette zündet beinschwingend beim Cancan ein raschelndes Feuerwerk in Rottönen, dass es nicht nur für die Herren im Saal eine Lust ist.
Weltuntergang, fidel
Pontevedro ist pleite, das muss gefeiert werden. Prost! Und so knallen die Sektkorken und klirren die Gläser, wie es von Lehárs «Lustiger Witwe» zu erwarten ist: in fideler Weltuntergangsstimmung. Mit starker Betonung auf fidel. Aus dem Graben tönt es honigsüss und so verführerisch, dass man den nahen Abgrund in dieser letzten grossen Blüte des Genres Operette immer mithört. Die betörendsten Farben entlockt Jeremy Carnall dem Sinfonieorchester St. Gallen, mit Wehmut und mit sanfter Ironie hinter der Maske des flott-fröhlichen Tanzstücks.
Weniger zweideutig ist die Bühnenbotschaft: Wenn die Welt draussen schon nicht zu retten ist, soll uns die Kunst wenigstens für ein paar Stunden auf andere Gedanken bringen, oder noch besser: in Sinnlichkeit und Sentiment schwelgen lassen.
Hansjörg Hacks Inszenierung lässt diesbezüglich keine Wünsche offen. Lustig tanzt es sich hier auf dem Vulkan, stilgerecht choreographiert von Götz Hellriegel, und obwohl der Staatsbankrott droht, kommt bei Bodo Schwanbeck als Baron Zeta in der Pariser Gesandtschaft des Zwergenreichs Pontevedro keine Hektik auf. Allenfalls, wenn die Weiber vom Pfad der Tugend abzugleiten drohen. Also eigentlich ständig. Da tun sich die Gehörnten mit den smarten Verführern zusammen und marschieren mit geballtem Temperament (und niedlichen Ermüdungsgesten) gegen weibliche List und Tücken auf.
Das Septett im zweiten Akt ist Musterbeispiel für Hacks souveränen Umgang mit der Vorlage, für seine Liebe zum Detail und sein Vertrauen ins Amüsierpotenzial der Sänger. Nebenrollen gibt es hier kaum; da agitieren und affichieren ein Cascada und ein Saint-Brioche (Roman Ialcic und Carlos Petruzziello als quirliges, stimmlich schlagfertiges Gespann) nicht bloss auf dem Papier, ganz zu schweigen von den unübertrefflichen Auftritten von Walter Andreas Müller als Graf Danilos Faktotum Njegus in Hochwasserhosen: Bleibt uns vom Leibe mit aufgesetzten Gegenwartsbezügen! Ein Lachtränchen im Augenwinkel muss auch in Krisenzeiten legitim sein. Wohl wahr.
Powerfrau im Zentrum
Zumal abgesehen von der opulenten Kostümierung wenig ablenkt von Musik und gediegen komödiantischem Schauspiel. Etwas einfallslos möbliert Klaus Hellenstein die Gesandtschaft zwischen grauen Säulen; in Hannas Garten prangt immerhin ein stattlicher Pavillon für die raffinierten erotischen Manöver, die in Hacks Inszenierung im Mittelpunkt stehen. Mit Angela Fout stellt er eine Powerfrau als Witwe Hanna auf die Bühne; sie weiss, dass aller Schicksal, auch das der Produktion, in ihren Händen ruht, und kostet ihre Auftritte dementsprechend weidlich aus.
An Durchsetzungskraft fehlt es ihr wahrlich nicht, jedoch manchmal an Flexibilität in den vokalen Farben. Das Vilja-Lied singt sie, wie es die Rührseligkeit fordert: in fragilem Messa di voce, allerdings mit unnötig befrachteten Schlusskonsonanten, was einem einfachen Landmädchen wohl so nicht über die Lippen käme. Der alten Liebe Graf Danilos tut das freilich keinen Abbruch, auch wenn sich Paul Armin Edelmann mit der richtigen Mischung aus jugendlichem Leichtsinn und kernig-männlich timbriertem Bariton notorisch bei Maxim's herumtreibt. Den Taugenichts gibt er mit Charme und Feuer; sein stimmlicher Facettenreichtum im Melodienreigen hat die Millionen – zwanzig, um genau zu sein – redlich verdient.
Leichter festzulegen ist Derek Taylor auf den Kavaliertenor: mit ihm lässt sich geschmeidig spielen, Evelyn Pollock als Valencienne macht es vor – erfrischend, wenn auch nicht bezwingend. Dass sie «eine anständ'ge Frau ist», braucht kaum Augenzwinkern, von Zetas Biederkeit jedenfalls hat nichts auf sie abgefärbt. Und ihre Laune steckt an wie das Prickeln und Flüstern aus dem Orchestergraben: Auf die Offenbarungslust der Geigen ist Verlass, ebenso auf den krisenfest agierenden Chor.
Auch das muss ein Theater sich leisten können, 2 Euro pro Ticket reichten da nicht weit. Operette als Publikumsmagnet: Hoffen wir, dass die Rechnung aufgeht. Damit es ein andermal über die Stränge schlagen oder statt Sekt reinen Wein einschenken kann.