Thomas Schacher, Neue Zürcher Zeitung (26.05.2008)
Halévys «Clari» als Schweizer Erstaufführung in Zürich
Die Vorgeschichte: Cecilia Bartoli, die weltweit umjubelte Primadonna, wandelt zurzeit auf den Spuren der Sängerin Maria Malibran, die sie als ihr Vorbild betrachtet. Zum 200. Geburtstag der legendären Mezzosopranistin wollte Bartoli eine Rolle wiedererwecken, die eigens für Malibran komponiert worden war. In der Pariser Bibliothèque Nationale entdeckte sie Jacques Fromental Halévys Oper «Clari» (NZZ 22. 5. 08). Die Opera semiseria erlebte 1828 am Pariser Théâtre-Italien mit Malibran in der Titelrolle ihre Premiere und verschwand danach bald von der Bühne.
Bartoli in allen Facetten
Aus aktuellem Anlass konnte Bartoli den Intendanten Alexander Pereira dazu bewegen, «Clari» kurzfristig in den Spielplan 2007/08 des Zürcher Opernhauses aufzunehmen. Doch nicht genug damit: Auch die Auswahl der beiden Regisseure Moshe Leiser und Patrice Caurier geht auf Bartolis Initiative zurück, die das Team bei einer Rossini-Inszenierung in London kennengelernt hat. Und drittens erweiterte Bartoli die Oper um zwei Arien, von denen die eine nicht einmal von Halévy stammt. In Abwandlung von Pirandellos Bühnenstück «Sei personaggi in cerca d'autore» kann man sagen, hier habe ein Star eine Oper gesucht, die auf ihn zugeschnitten ist.
Die Stärke der Zürcher Aufführung liegt denn auch darin, dass sich Cecilia Bartoli künstlerisch in allen Facetten verwirklichen kann. Sie spielt die Geschichte vom armen Bauernmädchen Clari, das von einem Herzog auf sein Schloss gelockt, verwöhnt und dann fallengelassen wird, mit totaler Hingabe. Sie lässt sich beeindrucken, ist auf Abwehr bedacht, hat Schuldgefühle ihrem Vater gegenüber, verfällt dem Wahnsinn, will sich umbringen, flieht aus dem Spital, sucht im Haus ihrer Eltern die Versöhnung und schwimmt am Schluss im Glück. Dabei bewältigt sie einen facettenreichen musikalischen Part, der einen riesigen Tonumfang aufweist und mit Koloraturen à la Rossini gespickt ist. Und mit ihrem dunklen Timbre, ihren bald leisen, bald herausgeschrienen Tönen und ihrer oft ungeschliffenen Deutung macht sie aus der Titelfigur eine Person aus Fleisch und Blut. Neben solchem Können hat der Amerikaner John Osborn als Herzog einen schweren Stand. Doch nach einer Anwärmphase erreicht sein Tenor schöne Strahlkraft, und der Wandel vom tennisspielenden Playboy zum reuevollen und aufrichtigen Liebhaber gelingt ihm bestens.
Die simple und klischeehafte Handlung von «Clari» stellt für einen Regisseur eine zünftige Herausforderung dar. Das Duo Leiser und Caurier, das unter anderem in Genf und in Lausanne mit bemerkenswerten Inszenierungen aufgetreten ist, setzt auf Witz, Ironie und Verfremdung. Aus dem italienischen Fotoroman der 1950er Jahre stammt die Idee, die Handlung durch wechselnde Bilder, die in einem grossen Rahmen erscheinen, zu kommentieren. So erfahren wir zum Beispiel, dass der Herzog Clari über eine Vermittlung im Internet kennengelernt hat. Das Bühnenbild von Christian Fenouillat zeigt, ebenfalls im Stil der fünfziger Jahre, den bilderbehangenen Salon des Grafen, den öden Warteraum eines Spitals und den ärmlichen Wohnraum von Claris Eltern. Und dick tragen die von Agostino Cavalca eingekleideten Figuren darin auf: Der Graf benimmt sich als der Macho vom Dienst, seine geladene Gesellschaft könnte gerade vom Filmfestival von Cannes gekommen sein, die wahnsinnig gewordene Clari rettet sich in höchster Not auf die Schultern eines knallroten King Kong, Claris Vater versucht sich an einer Stange zwischen Parmaschinken und Salami zu erhängen.
So wird die Grenze zur Lächerlichkeit mehrmals überschritten, was dieser Oper nicht unbedingt gerecht wird. Allerdings ist das Pulver nach der Schluss-Turbulenz des ersten Aktes weitgehend verschossen, so dass die Spannung danach abfällt. Die stärksten Eindrücke hinterlassen dann bezeichnenderweise die Auseinandersetzung des Protagonistenpaars und die Trauerarie Claris im Spital, die nicht ironisiert werden.
Die Musik Halévys, der «Clari» im Anschluss an seinen Rom-Aufenthalt komponiert hatte, ist im Geist der italienischen Belcanto-Oper geschrieben, wenngleich sie auch, beispielsweise in der Ouverture, einige französische Elemente aufweist. In Zürich musiziert, wie schon bei Bartolis Malibran-CD, das auf historischen Instrumenten spielende Orchester «La Scintilla» des Opernhauses. Wieso man dazu den Dirigenten Adam Fischer, der nicht von der alten Musik herkommt, verpflichtet hat, bleibt ein Rätsel. Ein anderer Dirigent hätte da stilistisch noch mehr herausholen können. Positiv fallen die Transparenz des Klangbildes und die Farben der von Halévy phantasievoll eingesetzten Holzbläser ins Gewicht. Was die beiden eingefügten Arien für Clari betrifft, kann man die Trauerarie, die aus Rossinis «Otello» entliehen ist, noch gelten lassen. Dass aber der Spannungsverlauf des Schlusses durch eine Cavatina aus Halévys «La tempesta» unterbrochen wird, ist unverzeihlich.
Die Nebenrollen
Ach ja, da sind noch die Nebenrollen, die vom Librettisten Pietro Giannone äusserst stiefmütterlich behandelt sind. Aus dem schwachen Profil, das dem komischen Liebespaar unter den Dienern des Grafen zugemessen ist, machen Eva Liebau als Bettina und Oliver Widmer als Germano das Beste. Eine etwas deutlicher gezeichnete Figur ist Claris Vater Alberto, der von Carlos Chausson wirkungsvoll dargestellt wird. Stefania Kaluza als Claris Mutter darf vorwiegend die Hände ringen und aus der Flasche trinken. Und Giuseppe Scorsin als Diener Luca kämpft gegen die ihm zugedachte Bedeutungslosigkeit. Mit brillanten Einsätzen als Mitglieder der High Society, Spitalpersonal und Landarbeiter wartet der Chor des Opernhauses auf. Fazit der Zürcher Wiederbelebung: Halévys «Clari» ist eine Oper «ad personam», eine One-Woman-Show, von Cecilia Bartoli faszinierend umgesetzt. Ihre Hoffnung allerdings, dass das Stück Eingang ins Repertoire finden möge, wird sich nicht erfüllen.